Hintergrund
- Der Verkehrssektor wird zu einem immer größeren Problem für den Klimaschutz in Österreich: Die CO2 -Emissionen sind seit 1990 um 62% gestiegen, während sie in anderen Sektoren abgenommen haben.
- Im Sinne des Klimaschutzes wäre eine Reduktion des motorisierten Individualverkehrs und des Güterverkehrs sowie ein Umstieg von fossil betriebenen Pkws auf alternative Energieträger nötig; dies erfordert eine konsequente pull-and-push-Strategie
- Pull-Maßnahmen (z.B. bessere ÖV-Angebote) sind zwar gut akzeptiert aber teuer. Push-Maßnahmen sind billiger, aber wenig akzeptiert, häufig wegen befürchteter negativer Verteilungseffekte (soziale Härte).
- Herkömmliche Bewertungsverfahren wie die Nutzen-Kosten-Analyse (NKA) bewerten nur verkehrliche und Umwelteffekte, sie sagen nichts über Verteilungseffekte und die Akzeptanz der Maßnahmen aus.
- An der TU Amsterdam wurde kürzlich ein neuartiges Bewertungsverfahren entwickelt, es nennt sich Participatory Value Evaluation (PVE). Hier wird im Gegensatz zur NKA auch die soziale Akzeptanz der Maßnahmen berücksichtigt, was eine wesentlich realistischere und ganzheitlichere Bewertung ergibt
Ziele des Projektes
- Erweiterung des 'standard PVE' zu einem 'social PVE', in dem neben ökonomischen und ökologischen Effekten auch Verteilungseffekte und governance-Aspekte in der Entscheidung berücksichtigt werden;
- Erste Implementierung eines PVE in Österreich (in Form des neu entwickelten social PVE);
- Identifizierung von Klimaschutz-Maßnahmen im Verkehrssektor, die im Rahmen des PVE (bei entsprechender Berücksichtigung von sozialen und partizipativen Kriterien) hohe Akzeptanz finden;
- Identifizierung jener sozialen und partizipativen Kriterien, die für eine hohe Akzeptanz wichtig sind, etwa Transparenz und Legitimität als Basis für hohes Vertrauen in die politische Entscheidung.
Projektablauf
Das PVE soll in einem städtischen und einem ländlichen Gebiet durchgeführt werden, weil wir hier sehr große Unterschiede in der Auswahl und Bewertung vom Klimaschutzmaßnahmen erwarten. Wien und Ried im Innkreis sollen als LoI-Partner für aPPRAISE gewonnen werden. Das Projekt besteht aus fünf Arbeitspaketen:
- WP1: Projektmanagement;
- WP2: Vorbereitung der PVEs unter Mitwirkung der LoI-Partner im Rahmen von partizipativen Workshops;
- WP3: Durchführung der PVEs in Wien und Innviertel;
- WP4: Analyse der Bewertung der Maßnahmen und Identifikation von Einflussfaktoren auf die Bewertung;
- WP5: Verbreitung der Ergebnisse in Verbreitungsworkshops in den Fallstudien-Gebieten und darüber hinaus.
Methodik
Um herauszufinden, welche Bündel von Klimaschutzmaßnahmen im Personenverkehr von ÖsterreicherInnen präferiert werden und wie ambitioniert BürgerInnen bei der Auswahl dieser Bündel sind, wurde ein innovatives “Policy-Choice-Experimentes” durchgeführt, das auch als “Participatory Value Evaluation” (PVE) bezeichnet wird. Dieses war der zentrale Teil einer online-Erhebung mit 1585 teilnehmenden Personen, die Ende 2021/Anfang 2022 in städtischen und ländlichen Gebieten in Österreich durchgeführt wurde, herangezogen. Erhoben wurden auch detaillierte sozioökonomische Merkmale, Mobilitätsverhalten, Einstellungen und politischen Präferenzen.
Die beiden nachfolgenden Abbildungen illustrieren das Tool, das für das Policy-Choice-Experiment verwendet und im Rahmen des aPPRAISE Projektes entwickelt wurde. Auf der linken Seite der Abbildung findet sich einerseits die Beschreibungen der Maßnahmen und andererseits wird gezeigt, dass die Befragten durch Anklicken jeweils die Intensität der Maßnahmen wählen können. Auf der rechten Seite der Abbildung werden die Auswirkungen ihrer Wahl angezeigt, auch hier können weitere Informationen durch Anklicken der Auswirkungskategorien abgerufen werden. Um die Komplexität für die Befragten zu reduzieren wurde ein zweistufiger Ansatz gewählt: Im ersten Schritt wählen sie ein Bündel an Maßnahmen mit entsprechenden Intensitäten und sehen dabei die zu erwartenden Auswirkungen ihrer Auswahl auf die CO2-Emissionen, das öffentliche Budget (aggregiert für ganz Österreich) und die persönlichen Kosten (berechnet auf Basis ihrer Angaben zum derzeitigen Mobilitätsverhalten). Das CO2-Reduktionsziel für das Jahr 2030 konnte je nach gewählten Maßnahmen(Intensitäten) über- oder unterschritten werden; im letzteren Fall wird eine Warnung angezeigt, die jedoch ignoriert werden kann. Im zweiten Schritt werden den Befragten zusätzliche Auswirkungen des von ihnen gewählten Bündels angezeigt, und sie werden gebeten, ihre Wahl auf Basis der zusätzlichen Informationen anzupassen. Eine Kurzversion es Fragebogens mit dem Policy-Choice-Experiment ist unter https://ive.boku.ac.at/appraise_mini/ verfügbar.
Das Design des Policy-Choice-Experiments wurde partizipativ unter Einbeziehung verschiedener Stakeholder-Gruppen (ExpertInnen, BürgerInnen, politische Entscheidungsträger) entwickelt. Ihr Feedback wurde in verschiedenen Phasen des Designprozesses berücksichtigt.
Politische Maßnahmen:
Für das Experiment wurden 11 verkehrspolitische Maßnahmen ausgewählt, darunter sowohl Push- als auch Pull-Maßnahmen; letztere inkludieren regulatorische Maßnahmen (z.B. Neuzulassungsverbot für Benzin/Diesel-PKWs), die Verhaltensrestriktionen bedingen, sowie finanzielle Maßnahmen (z.B. Erhöhung der Mineralölsteuer), die über Preisanreize wirken. Die folgenden Kriterien wurden festgelegt, damit eine Maßnahme als geeignet für die Aufnahme in das Experiment angesehen werden kann: (i) ihr kurz- oder mittelfristiges CO2-Reduktionspotenzial im Personenverkehr, (ii) das Vorhandensein von Zielkonflikten zwischen verschiedenen Auswirkungen, (iii) dass hauptsächlich BürgerInnen von den Maßnahmen betroffen sind (nicht Unternehmen, Institutionen oder öffentliche Einrichtungen). Für jede Maßnahme wurden 4 oder 6 verschiedene Intensitätsstufen (einschließlich des Status quo) definiert, was bedeutet, dass die Befragten insgesamt zwischen 32 Millionen verschiedenen Maßnahmenbündeln wählen konnten. Die Intensitätsstufen wurden so gewählt, dass selbst bei der niedrigsten Stufe (abgesehen vom Status quo) beträchtliche CO2-Emissionsreduktionen erzielt werden können. Kurze verbale Beschreibungen der politischen Maßnahmen erklären den Befragten die Maßnahmen.
Auswirkungskategorien:
Die zentrale Auswirkungskategorie, die den Befragten als Reaktion auf jede gewählte Kombination von Maßnahmen (mit entsprechenden Intensitäten) angezeigt wurde, ist die zu erwartende Reduktion der CO2-Emissionen. Weitere wichtige Auswirkungen betreffen das öffentliche Budget (unter Berücksichtigung der zu erwartenden Strafzahlungen für das Verfehlen der Klimaziele), sowie die monetären Auswirkungen auf das Budget der Befragten, die auf der Grundlage ihres aktuellen Mobilitätsverhaltens berechnet wurden. Weitere Auswirkungen wurden in Form einer Abweichung vom Status quo in positiver oder negativer Richtung definiert: (i) Veränderungen der Verkehrsbedingungen für bestimmte Verkehrsträger, (ii) Veränderungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen und (iii) Indikatoren für Auswirkungen auf die Umwelt, Gesundheit, Qualität des öffentlicher Raums, und die Wirtschaft.
Quantifizierung der Auswirkungen:
Die erwartbaren Auswirkungen der Maßnahmen wurden aus der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur sowie aus politischen Studien und einer Delphi-Studie unter ExpertInnen abgeleitet. Auswirkungen der angebots- und marktorientierten Maßnahmen, die beide über Nachfrageelastizitäten wirken, wurden anhand von zwei bestehenden Modellen geschätzt, die auf österreichischen Daten basieren (Jokubauskaite et al., 2019; Hössinger et al., 2017). Die Auswirkungen von Regulierungsmaßnahmenwurden aus der Literatur übernommen. Die kombinierten Effekte der einzelnen Maßnahmen wurden unter Berücksichtigung von Interaktionseffekten geschätzt. Die Verteilungs-, Wirtschafts- und Umweltauswirkungen der politischen Maßnahmen wurden auf Basis der Einschätzung von 31 ExpertInnen im Rahmen einer Delphi-Studie bewertet.
Design der Befragung:
In der Einführung zur Umfrage wurden die Befragten gebeten sich in die Lage von PolitikerInnen zu versetzen, die ein Maßnahmenbündel umsetzen sollen, das die Klimaziele im österreichischen Personenverkehrssektor erreicht, nämlich eine Reduktion der CO2-Emissionen bis 2030 um 55% gegenüber 1990. Diese Definition berücksichtigt nur die Emissionen des Personenverkehrs auf der Straße (für Österreich: 63,1 % der CO2-Emissionen aus dem Straßenverkehr – das ist der durchschnittliche Anteil in den Jahren 2017 und 2018). Die Befragten sollten nun ein Maßnahmenbündel wählen, das dieses Ziel erreicht. Bei einer Verfehlung wurden sie in einem Pop-up-Fenster aufgefordert zu bestätigen, dass sie trotz Zielverfehlung fortfahren wollen. Um die Befragten mit dem Studiendesign nicht zu überfordern, mussten sie erstens vor dem Ausfüllen des Wahlexperiments mussten sich die TeilnehmerInnen ein dreiminütiges Video ansehen, das sie einerseits über die Bedeutung von CO2-Emissionsreduktionen angesichts des Klimawandels und andererseits über die Funktionsweise des Experiments informierte. Zweitens, wurden die Auswirkungen des von ihnen gewählten Maßnahmenbündels in einem zweistufigen Verfahren aufgezeigt (siehe oben).
Durchführung der Befragung und Sample:
Die Umfrage fand Ende 2021 und Anfang 2022 statt. Mit Hilfe eines Marktforschungsinstituts wurden die Befragten aus Wien sowie aus ländlichen Gebieten in Ober- und Niederösterreich rekrutiert. Die verwertbare Netto-Stichprobe umfasst 836 Personen aus Wien sowie 749 Personen aus den ländlichen Gebieten. Die Befragten brauchten durchschnittlich 30 Minuten für die gesamte Umfrage und 8 Minuten (Median: 5 Minuten) für das Policy-Choice-Experiment. Die Stichproben für Wien und die ländlichen Gebiete sind hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Merkmale weitgehend repräsentativ für die jeweilige Bevölkerung.